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ersten Teil. 📚
„Möchten Sie einen Escort oder einen Corolla?“, fragte der sommersprossige Mitarbeiter der Mietwagenfirma, der mit den vielen Punkten im Gesicht und dem wild mäandernden, roten Haar exakt so aussah, wie ein Ire nur aussehen kann.
„Völlig egal“, sagte Moritz, der in Irland schon alles bekommen hatte, Toyotas, Fords, Peugeots, Opels und so weiter. Obwohl er jedesmal einen Golf bestellt hatte. Er schob Führerschein und Kreditkarte über den Tresen.
„Alles okay für mich“, wiederholte er.
„Dann bekommen Sie einen Volvo“, sagte der junge Ire und raunte verschwörerisch: „Bigger car, same price!“
Moritz grinste und zwinkerte Marie zu. Ja, sie waren wieder in Irland, wo organisatorisch alles auf freundlich-schrullige Weise ablief, aber stets charmant. Warum ihnen trotz des bestellten Golf die Wahl zwischen einem Ford und einem Toyota gelassen wurde und sie dann einen Volvo erhielten, noch dazu einen riesigen, wie sich herausstellen sollte – Moritz war klar: Sie würden es nie erfahren.
Marie zwinkerte zurück. Der erste Ire unseres Urlaubs, dachte sie und freute sich auf das, was kommen würde.
Sie hatte dieser Ankunft entgegengefiebert, dem Roadtrip durch Irland, der vor ihnen lag. Vor kaum zwei Stunden noch hatte sie aus dem Flugzeug geblickt, auf das Auftauchen der Halbinsel Howth am Horizont gewartet, Vorbote Irlands. Sie hatte, als sich die Maschine im Landeanflug befand, das gleichnamige Küstendörfchen bewundert, das von oben wie eine Puppenstube aussah, als es im Flugzeugfenster nach hinten schwamm. Gleich darauf Touchdown. Wie eine faule Katze hatte das Flugzeug den Terminal 1 des Flughafens umschlichen. Am Gummiband hatten sie ihr Gepäck an sich heranrollen lassen und beim Verlassen der Ankunftshalle ein großes Transparent bewundert, auf dem in Riesenlettern stand:
„So good to see you!”
„So begrüßt uns nur Irland”, hatte Marie zu Moritz gesagt.
Eine Glastüre war auseinander gefahren und sie waren in Dublin.
„Angekommen“, sagte Marie nun, nachdem sie die Limousine übernommen hatten und auf der M4-Autobahn ihrem ersten Etappenziel, Galway, entgegenfuhren:
„Jetzt sind wir da, jetzt geht es los.“
Moritz gab dem Volvo die Sporen. Der Dieselmotor des dicken Autos brummte dahin wie eine volltrunkene Hummel, Irlands wildem Westen entgegen. Marie hatte das Gefühl, als würde in diesem Augenblick ein ganz großes Abenteuer beginnen. Es war, als öffnete sich vor ihnen die gesamte Insel für sie beide. Als führen sie direkt in eine verzauberte Welt aus Feen, Meer, Musik, Schafen und spannenden Erlebnissen hinein. Marie war glücklich.
"Reden wir über Bertie", sagte sie gut drei Stunden später, als sie Galway erreicht, den Volvo am Parkplatz vor The Huntsman Inn am Lough Atalia geparkt und sich "eingeschifft" hatten, wie Moritz zu ihrer Quartiernahme sagte.
Im Web hatte Marie auf AirBnB ein Hausboot namens Catharina gefunden, das hier vor Anker lag und gemietet werden konnte. Sie war skeptisch gewesen, doch Moritz hatte den Gedanken geliebt, auf einem Schiff zu wohnen. Und weil Galway als Reiseziel wegen der Suche nach Bertie Maries Sonderwunsch gewesen war, hatte Moritz ihr im Gegenzug die Unterkunft Hausboot abgetrotzt.
Bertie also. Moritz ließ sich, auf Catharinas abendlichem Achterdeck sitzend, von Marie jene Geschichte erzählen, von der er zu Hause gesagt hatte, er wolle sie sich für Irland aufheben: Bertie, der Fischreiher.
Das Tier lebte in Galway am Corrib-Ufer des Long Walk, der bekanntesten Straße der Stadt, und starrte Haustüren an. Stundenlang konnte der Reiher bewegungslos verharren und Türknaufe fixieren. Offensichtlich wartete er, dass jemand herauskäme und ihn füttern würde, was wohl auch regelmäßig geschah. Das schrullige Tier hatte es zu einer gewissen Berühmtheit gebracht, seit ihm am Long Walk wohnende Studenten den Namen Bertie gegeben hatten.
"Bertie de Heron", um genau zu sein. "Heron" das englische Wort für Fischreiher, und "Bertie" nach dem früheren irischen Premierminister Bertie Ahern. Phonetisch ergab das einen erstaunlichen Gleichklang. Mit diesem Namen hatte der Fischreiher es sogar zu einer eigenen Facebook-Seite gebracht und auch sonst multiplen Eingang in die Social Media-Welt gefunden.
Diesen Fischreiher, Bertie de Heron, wollte Marie finden, besuchen und füttern. Das war ihre Galway-Mission.
Am nächsten Tag patroullierten Moritz und sie daher den Long Walk auf und ab, befragten Einheimische, sahen hinter Autos, warteten, suchten und kontrollierten, jedoch: kein Bertie. Sie lernten dabei zwar die Stadt kennen, fütterten die berühmten Claddagh-Schwäne im Corrib, besuchten das Stadtmuseum, aßen im pittoresken Restaurant Ard Bia im Spanish Arch, sahen einem lokalen Segelboot, einem „Galway Hooker", beim Hinausfahren in die Galway Bay zu, bewunderten Straßenkünstler und verbrachten sogar eine Stunde schmökernd in Charlie Byrne´s Bookshop, dem bekanntesten Buchladen der Stadt. Nur Bertie fanden sie nicht.
Abends beschlossen sie, über die Wolf Tone Bridge hinüber ins Evil Westend Galways zu spazieren, um in einem Pub ein Guinness zu trinken und Trad-Musik zu hören. In einer der Seitenstraßen hinter der Brücke, neben dem Eingang zum Lokal Róisín Dubh, wankte ein Betrunkener im Stand vor sich hin, eine Zigarette im zahnlöchrigen Mund. „Das Róisín!", rief Marie, die sich ausführlich auf diesen Irland-Trip vorbereitet hatte, und erklärte Moritz:
Das Róisín Dubh sei eines der bekanntesten Rocklokale der Insel, viele Größen hätten hier zu Beginn ihrer Karrieren aufgespielt.
„Du sprichst es ,Roschien Duuv‘ aus“, sagte sie, „das heißt auf Deutsch ,Schwarze Rose‘".
Moritz interessierte sich aber mehr für den Betrunkenen als für die irische Sprache. Der schlingerte, schwankte, und schien jeden Moment umzufallen, schaffte es aber immer wieder, auf den Beinen zu bleiben. Er wirkte freundlich. Als er bemerkte, dass Moritz ihn über die Straße ansah, lallte er zu ihm herüber:
„Hey, come on over, gimme a hug!"
Und Moritz, längst von Maries Irland-Begeisterung angesteckt, marschierte zum anderen Gehweg hinüber, umarmte den Mann tatsächlich und hieb ihm jovial auf die Schulter.
„Pass auf die Brieftasche auf!", hatte Marie ihm noch nachgerufen. Doch der Besoffene hatte nichts Illegales im Sinn. Wahrscheinlich war ihm tatsächlich nur nach einer Umarmung gewesen. Auf jeden Fall wurde er zum zweiten Iren, den Marie und Moritz auf ihrem Irland-Trip kennenlernten.
Der Mann drückte Moritz, als gäbe es kein Morgen. Dann wollte er ihre Namen wissen. „What´f ya ame?“, lispelte und lallte er.
Schwer zu sagen, ob die zerknautschte Aussprache vom Whiskey oder den Zahnlücken stammte. Mit beiden befand sich der Mann offensichtlich in einem innigen Liebsverhältnis.
„That´s Marie", sagte Moritz, „and I am Moritz."
„Moouweeds", stotterte der Besoffene und spuckte beinahe seinen dramatisch lose im Mund hängenden letzten Schneidezahn aus.
Moritz grinste schon wieder.
„Für dich einfach Mo, she´s simply Ma", sagte er.
„Just call us MoMa, if you like!"
Doch das erreichte den Iren nicht mehr. Er war plötzlich stocksteif geworden. Nicht nur hatte der Mann sein Schlingern eingestellt, sondern er stand mit einem Mal wie angeschraubt am Trottoir. Als sei er zur Statue mutiert, den Kopf zur Seite gedreht. Nur die Zigarette im Mund hatte zu tanzen begonnen, Zeichen schockgefrorener Aufgeregtheit.
Moritz sah sich um. Niemand außer ihnen war da. Lediglich die Frau mit dem beigen Trenchcoat und den High Heels, die an ihnen vorbeigestöckelt war, als Moritz sich und Marie vorgestellt hatte, bog ein paar Meter weiter um die nächste Straßenecke. Ihr sah der Besoffene entgeistert nach.
„MoMa", presste er heraus und sah weder Marie noch Moritz an, der belustigt zur Kenntnis nahm, dass sein Angebot der Kurzform ihrer beider Namen angenommen worden war.
„MoMa", wiederholte der Besoffene, „do you know who she was?"
Moritz drehte den Kopf hin und her. Natürlich hatten weder er noch Marie eine Ahnung, wer die Frau war, die inzwischen verschwunden war.
Der Besoffene öffnete den Mund zu einem großen O, die Zigarette fiel auf den Gehsteig, dann holte er tief Luft, und Moritz wusste: Was der jetzt gleich sagen würde, war in seiner Welt etwas Großes.
„The Galway Girl!", brach es aus ihm heraus, und das Lispeln und Lallen war verschwunden, „the real Galway Girl. The woman Steve Earle wrote the song for!" MoMa sahen einander an. Sie hatten bei der Planung des Roadtrips, als klar war, dass Maries Sonderwunsch sie nach Galway führen würde, die Herkunft des Folk-Songs „Galway Girl" gegoogelt. Und herausgefunden, dass das Galway Girl vom Komponisten, dem Country-Sänger Steve Earle, einem realen Vorbild nachempfunden war, einer echten Stadtbewohnerin, in die Earle sich wohl verliebt haben mochte. Und da gab es dann eben irgendwann den Song, der es auf der Insel zu unglaublicher Berühmtheit geschafft hatte.
Konnte das wahr sein?
Sollten Moritz und Marie, die sich ab diesem Zeitpunkt einen Spaß daraus machten, einander selbst MoMa zu nennen, dieses Glück gehabt haben, die Frau zu sehen, die das echte Galway Girl war? Wenn auch nur im Vorübergehen?
„Hast du ein Foto gemacht, MoMa?", fragte Moritz später, als sie den Besoffenen hinter sich gelassen hatten.
„Natürlich nicht, MoMa!", sagte Marie, „warum hätte ich ein Foto von einer x-beliebigen Frau machen sollen?"
Sie zuckte mit den Achseln.
„Jedenfalls war der Besoffene unsere zweite irische Urlaubsbekanntschaft. Und sagen wir einfach, das Galway Girl, sollte sie wirklich das Galway Girl gewesen sein, war die dritte. Auch wenn wir mit der gar nicht gesprochen haben." Moritz nickte nur stumm.
„Schluss jetzt", befahl Marie, „gehen wir Musik hören und unser Guinness trinken. Schwing die Hufe, MoMa, die Crane Bar ist gleich ums Eck!"
Die Crane Bar. In Galway eine kleine Institution. Dorthin gehen die Locals, wenn sie Trad hören wollen. TV-Zuseher im deutschen Sprachraum kennen die Bar unter fremdem Namen als Hauptquartier des literarischen Galwayer Privatdetektivs Jack Taylor, dessen Abenteuer das deutsche Fernsehen als Co-Produktion mit einem irischen Sender verfilmt hat. So kam das unscheinbare, grün-weiße Eckhaus zu mitteleuropäischer Bekanntheit.
MoMa schoben die knarzige Holztüre auf, traten ins dunkle Innere und waren enttäuscht. Keine Spur von Musik. Ein paar Iren, die sich an der Bar mit ihrem Guinness unterhielten, als würden sie vor den Gläsern Wache halten. Sonst tote Hose. Was MoMa nicht wussten: Die täglichen Trad-Sessions finden nicht unten statt, sondern oben im ersten Stock, in den man über eine schmale Treppe gelangt, die Uneingeweihte schon einmal übersehen können. Eingeweihte jedoch wissen: In der „Little Crane", wie der erste Stock heißt, gibt es die womöglich beste Trad-Musik der Stadt.
Der Barkeeper schickte MoMa nach oben. Anders als das Erdgeschoss war die Little Crane bereits jetzt, zu Beginn des Abends, gut gefüllt. Links an der Wand der Musiker-Tisch, eine Fiddlerin, ein Gitarrist, eine Frau mit Querflöte, eine mit Tin-Whistle, ein Mann mit irischer Bouzouki und noch einer mit einem Bodhrán. Sie spielten bereits wie in Trance, ließen Jigs und Reels sich gegenseitig überholen, Barluft und Stimmung waren wie aus einem Irland-Bilderbuch. Moritz fielen die Augen heraus.
Denn an der Bar, ein Guinness in der Hand, stand: das Galway Girl.
Hinmarschieren, für sich und Marie zwei Guinness bestellen und die dritte Urlaubsbekanntschaft ansprechen war praktisch eine einzige Handlung. Moritz kam langsam in den irischen Flow, Marie befand sich ohnehin seit der Landung in Dublin mittendrin. Dem Galway Girl gefiel das deutsche Pärchen und sein Enthusiasmus für Irland. Sie ließ es sich gefallen, dass Moritz vom Barkeeper einen Kugelschreiber schnorrte und darauf bestand, dass ihm das Galway Girl „Fine-soft-day-I-ay" aus dem Text des Songs auf den Unterarm malte. Selbst als Marie fragte, ob sie nicht etwas singen könnte, nahm sie das hin, obwohl sie in der Öffentlichkeit so gut wie nie sang. Das Galway Girl nickte dem Barkeeper zu, der nickte den Musikern zu, und alle verstanden: Ein seltenes Ereignis stand bevor. Das Galway Girl nahm einen kräftigen Schluck Guinness, ging zum Musiker-Tisch, sagte zur zusammengewürfelten Band nur:
„You know your way."
Die wussten Bescheid, und dann kochte die „Little Crane“ mit einem Mal, denn das Galway Girl sang Galway Girl.
Nicht allein, denn nach wenigen Takten fiel die gesamte Belegschaft des ersten Stocks in den Song ein, auch MoMa, und alle hatten so sehr good craic, wie man in Irland good craic eben nur haben kann. Drei, vier Minuten lang erzitterte die Crane Bar. Und als alle den Day-I-ay-Refrain regelrecht aus sich heraus schrien, am lautesten schrie Moritz, war es jeweils, als würde Galway von einem Erdbeben heimgesucht, Stärke fünf auf der Richter-Skala.
Als das Galway Girl fertig war, gab es ein kollektives Johlen, Moritz johlte wieder am lautesten, und Marie nahm einen überdimensionalen Schluck Guinness.
„One more thing", sagte das Galway Girl zu ihr, nachdem sie an die Bar zurückgekehrt war:
„Euer Fischreiher, den kenne ich. Vor einem Jahr ist er eines Tages abgeflogen und war weg. Simply gone. Lives probably somewhere else."
Marie schluckte ein kleines Seufzerchen der Enttäuschung hinunter, die Reihersuche in Galway würde also nicht von Erfolg gekrönt sein. Auch das Galway Girl verabschiedete sich. Sie gab MoMa zwei Küsse auf die Wangen, ging ab in Richtung Treppe, und die dritte Urlaubsbekanntschaft von Marie und Moritz war verschwunden.
„Just as the Fischreiher", murmelte Marie.
„Shit", rief Moritz später, wieder zurück am Lough Atalia, als sie in Catharinas Hausbootbett lagen, besäuselt vom Guinness und dem einen oder anderen Shot Jameson.
„Was?", wollte Marie wissen.
„Das Galway Girl! Wir haben sie nicht nach ihrem Namen gefragt."
Marie dachte kurz nach, fand dann aber, angesichts der Quantität des konsumierten Alkohols sei das eine lässliche Sünde.
„Wir haben keinen unserer drei Iren nach dem Namen gefragt."
„Aber ich will Bertie finden", fügte sie trotzig hinzu und schmiegte sich an Moritz.
„Nicht hier in Galway ", antwortete der und sah auf seinen Unterarm, wo das Fine-soft-day-I-ay schon etwas verblasst war.
„Wenn es sein soll, soll es sein, dann anderswo, und wenn nicht, dann nicht", murmelte Marie.
Und dann sagte Moritz noch: „Galway, Bertie und die drei Iren sind Geschichte für uns, MoMa. "Morgen fahren wir weiter ins County Clare".
."